Aphorismen

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Dietrich V. Wilke

Amrum

Eiland des Horizontes, umkreist von auftreffenden Wassern aus unendlicher Ferne, die nirgendwo zu Hause sind und doch brandend auf der Suche. Welche Ferne sucht der Blick - hinter aller Endlichkeit verborgen?

Die Weite aller Bewegung stillt das drängende Verlangen nach Verbleiben. Jede Sinnsuche findet hier zur Ruhe, das schlichte Sein lässt sich bereitwillig vom zweifelsfreien Hier und Jetzt des gegenwärtigen Augenblicks durchrauschen. Die strömende Masse des immer gleichen Meeresatems offenbart dem sehenden Auge nur Einzigartiges, das heraustaucht aus dem ewigen Halbrund der schäumenden Schleier. In ganz natürlicher Würde lebt sich hier die Ästhetik selbstverständlich aus. Niemand wagte, sie nach der Künstlichkeit eines fremddefinierten Stils oder der Schublade einer trennenden Epoche zu fragen. Wo alle Zeit von der Sonne gebleicht versandet, haben die Fundstellen Mühe sich zu offenbaren. Geben und Nehmen vollziehen sich unter der Regie einer plätschernden Suffleuse, bis das peitschende Rauschen des weiten Meeres sie überströmt und der Wind unmissverständlich seinen Herrschaftsanspruch in Landschaft und Gesichter kerbt, deren Schönheit sich auf keinen anderen Anspruch einlässt als auf die schmucklose Schlichtheit persönlicher Würde. 

Sich endlos mit seinen Schätzen offenbarend, bezeugt das Meer einen unermesslichen Reichtum als offene Schenkung an jedermann. Es erzählt auch von Untergang, Verderben und Wassertod, dessen Namenlosen die Insel irdische Ruhe gewährt - damit sie selbst zur Ruhe findet vor den Herausforderungen des dauernden Überlebenskampfes. Die stürmische Unendlichkeit findet in der Weite ihres weißen Sandes endlich zur Ruhe. Von den Vögeln, die sie einst anlockten und fingen, um zu überleben, lassen sich die Insulaner heute einfangen, damit jene nun überleben können.
Die Plünderungen der Gestrandeten und die Vogel-Fallen hat die Insel längst aufgegeben, um andere Beute zu machen, denn das Haben hat hier seit Urzeiten das Sein in den verschwiegenen Hintergrund gedrängt. Tiefe Dächer - wärmend in Reet verpackt - und Ziegelfassaden, die sie stolz tragen, betören sich gegenseitig und halten jeden Besucher selbstbewusst auf fremdelnde Distanz. Wie genuin bestimmt, halten die Insulaner ihr Willkommen in gesichertem Abstand, um gegen die Risiken des Unbekannten und die Flüchtigkeiten fragiler Annäherung gefeit zu bleiben. Zutrauen muss erst verdient werden, es könnte als wertlos gelten, würde es geschenkt. Sie fürchten die Überfremdung ihrer Insel, die bei Fremden so begehrt ist. Amrum hält Abstand und bietet ihn zugleich.

Seine Geschichte hat die Insel in gemeißelten Ziselierungen insulaner Biografien als Vermächtnis auf Jahrhunderte konserviert. Das soll den inneren Verpflichtungen kommender Generationen Halt geben und den Fremden den Amrumer Stolz offenbaren. Die Grabsteine sprechen davon, besonders von all den weltlichen Erfolgen, zu denen das Wasser die Insulaner einst in die Weite trug.

Das aber kann ihren natürlichen Charme nur dem verfremden, der sich darauf einlässt. Was die Insel ist, ist sie in ihrem Bewohner. Für sich selbst bleibt sie ein umsandetes Kleinod, himmlisch eingebettet ins durchwehende Licht aller Schöpfung.