Aphorismen

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Dietrich V. Wilke

Rom

empfängt seinen Besucher mit dem Angebot uralter Verwandtschaft, die jede Entfernung augenblicklich überwindet. Im Anblick ihrer steinernen Würde entbietet diese Stadt die Aura einer Jahrtausende alten Vertrautheit, in der sich Geschichte ohne verwinkelte Hintergedanken an Geist und Blut, an Spiel und Schwert entäußert. Lakonisch hält sie sich offen für jede fragende Beliebigkeit und jede Suche im Rund all ihrer von der Zeit ineinander geschachtelten Verborgenheiten. Sie degradiert alle Geschichtsschreibung, indem sich ihre Fakten aus aufgeschriebenen Erinnerungen hier von selbst zur urbanen Gegenwart erheben. 

Was Rom dabei zu verlieren scheint, gewinnt es aus seinen Römern zurück. All ihre Lebensfülle erhebt diese Stadt aus ihren historischen Toden, die sie heute selbstbewusst belächelt. So viel Leben in einer so versteinerten Stadt, das kann sich nur diese eine Geschichte leisten, deren Rückhalt in zeitüberdauernder Gnade gründet, denn ihre Mächte hatten auch jene kolossalen Untergründe entworfen, aus denen das plebejische Dunkel mit seinem blutgetränkten Schatten dem Licht Vernichtung androhte. 

Rom zu leben, bedarf eines archaischen Rückgriffs in die Verlorenheit menschlicher Schwäche. Darin keimt bis heute die urbane Kraft einer Zukunft, die als schützende Kuppel über allen Trümmern ihre tägliche Auferstehung feiert. Ihre vibrierende Stimme verhallt erst am Ende aller Stufen und Wasser, deren Quellen sich anschicken, sie immer auf's Neu im Fluidum des mitreißenden Lebens von aller Schuld zu reinigen. 

Mächtige haben trunken ihre Würfel über das Los dieser Stadt geworfen, aber nur das Pathos der Ohnmächtigen hat deren Stolz überlebt. Geschichte lebt in Geschichten, aus denen die Gegenwart jenen Zauber filtert, der bis heute die Welt beseelt. Wo alle Wege führen, kann man sich ihnen getrost überlassen, weil doch keiner sein Ziel verfehlt.

Rom ist ein Rausch, in dem nichts seiner Fremdheit den Betrachter entfremdet, weil diese Stadt mit jedem getanen Schritt auf Tuchfühlung bleibt, so wie ein Kind an unserer Hand, ohne das wir verloren wären. Die Sonne wirft ihr jene schattigen Höfe und Plätze zu, die als Inseln der Stille alle verschwiegenen Intimitäten bewahren - im geschlossenen Refugium ihrer Geschichten. Alles Außen entwirft ein Stück Fremde, Anonymität, in die aber niemand bloß entlassen wird, der sich vom schützenden Wall römischer Umarmung führen lässt. Alles fügt sie in ihren Kranz steinerner Würde. 

Wagnisse hat diese Stadt längst hinter sich gelassen, es waren auch genug. Jede Versuchung beantwortet sie jetzt mit einem stillen Hinweis auf die durchlebte Geschichte, die sich für jede Erklärung bereit hält. Aus tausend Jahren macht sie wenige Schritte, als wollte sie der Kurzatmigkeit unserer Gegenwart mit ausgestreckten Armen entgegen kommen. Jeder Versuch, sich ihrer Anziehung zu entwinden, hätte keine Chance. Rom herrscht nicht mehr: Die Anziehungskraft seiner Pole bedarf keiner Herrschaft mehr. Sie hat nun Zeit - aufgespeichert aus allem, was sie einst gewesen ist.

Diese immer wieder und wieder erweiterte Impression - als Relief vom Reigen der Jahrtausende ziseliert - lebt in einer urbanen Selbstverständlichkeit mit dem Heute, als sei in all der Zeit sonst nichts gewesen. Anspruchslosigkeit ist das einzige, was sie verdächtig macht, denn in ihr ist jenes verschwiegene Gestern verborgen, das sich in gediegener Zurückhaltung geduldig dem Wanderer durch die Zeiten bereit hält, offenbar zu werden, wenn er es denn will. Wer in Roms Geschichte eintaucht, vergisst, Luft zu holen, weil schon ihr eigener Atem alles zu beleben scheint. Selbst die Weite des Horizontes, von dem jedes Profil jeder anderen Stadt scharfkantig abgesetzt wird, gehört ihr, als seien sie seit jeher eins.