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Dietrich V. Wilke

Online-Texte


Digitalisierung der Kultur



Je früher desto besser, je schneller desto mehr. Kein Tempo entzieht sich digitaler Verfügbarkeit. Geschwindigkeit gilt als Siegeskriterium der Digitalisierung schlechthin. Sie ist der vernetzte Fluchtraum einer neu geschaffenen kulturellen Wirklichkeit. Kultur, deren Wege einst danach trachteten, sich epochale Zeiträume zu erschließen, wird seither auf den Altären ephemerer Geschäftigkeit ausgebreitet. Heute überstehen ihre Errungenschaften kaum das grobe Sieb tagaktueller Überlebensstrategie. Sie weichen dafür in die fragilen Hüllen digitaler Hohlraumkonservierung aus, die sie aus dem einst in sich ruhenden Kulturraum des verschwiegenen Vis-a-vis in die sich überschlagenden Wogen digital formatierter Kurzlebigkeit immer wieder neu für immer verflüchtigen.

Erkennt die Kultur die Fallenstellungen der Augenblicklichkeit, dann windet sie sich aus den Versuchungen digitaler Überlebensorganisation in den Erhalt materieller Lagerung. Hier staubt das Authentische in den Keller-Tresoren klassischer Werterhaltung vor sich hin, bis die Zeit des befristeten öffentlichen Auftritts als erlösendes Outing naht. Dann wird die Kunst einer Gesellschaft in der Mittelbarkeit persönlicher Begegnung präsent, allenfalls von der restauratorischen Firniss ihrer Konservierung überdeckt. Mit wachsender zeitlicher Distanz erlebt das klassische Kultobjekt eine Wertsteigerung, die seiner zeitgenössischen Ästimierung diametral gegenüber stehen kann, um uns die Fragilität gesellschaftlicher Wertschätzung vor Augen zu führen. Vor diesen Kultobjekten verharrt der Beobachter in der Impression bildhafter Begegnung und lässt sich von der Aura des kulturellen Unikates aus den Fesseln der eigenen Gegenwart befreien. Verloren an sich selbst und diesen ästhetischen Augenblick entzieht sie ihn aller mitreißenden Vergänglichkeit seiner eigenen Gegenwart. Die Zeit scheint sich selbst überwunden zu haben und beginnt zu ruhen.

Der Digitalisierung fehlt diese Muße für das Ausruhen im Schönen. Sie flimmert enervierend zum chronischen Aufbruch ins unbekannte Neue, kaum dass der Bildschirm die Pixel des Erschienenen sortiert hat. Hier regiert das Weiter das Ist, das Gleich das Jetzt, das Morgen das Heute. Dasein dient dem Ziel sich zu verändern und mitzuhalten. Anhalten langweilt, und Fluchtgeschwindigkeiten treiben dazu an, sich mitreißen zu lassen in die potentiell bessere Alternative einer Zukunft, die jenen Hoffnungskeim birgt, aus dem die Tagträume sind und denen bekanntlich keine Gegenwart auf Dauer stand halten kann.

Die permanente Fülle der Millionen Möglichkeiten ist zu verlockend, obwohl sie alle dem einen globalen Inszenierungsreigen entstammen, der als Realitätsersatz das Potential unendlicher Beliebigkeit bietet, irgendwie zu sein, ganz anders zu sein oder auch gar nicht zu sein, wenn es denn so gewollt ist - ganz wie's dem fragilen Launenkostüm gerade gefällt. Wir selbst entscheiden unter der Allmacht systemtechnischer Vorgaben über diese Alternativen kultureller Inszenierungswonnen und ihre Wahrnehmungen. Wo gelingt es schon sonst, über eine abschaltbare Wirklichkeit herrschaftlich verfügen zu können. Sie darf auch gerne 'virtuell' heißen, ob sie es auch ist, entscheiden wir allein und zwar nach höchstpersönlicher Bedarfslage. Hier beginnt der Fluchtweg in eine neue Inszenierungs-Freiheit, die der graue Alltag mit seinen real ausgelegten Bezugs-Netzen längst für sich vereinnahmt hält, auch wenn sie nur eine Illusion ist.