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Dietrich V. Wilke

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Eine Ethik des Fortschritts beschleunigt die Innovation in der Forschung

Bei der Neuformulierung, Entwicklung und Umsetzung wissenschaftlicher wie technischer Ziele und Innovationen spielen ethische Implikationen in der Regel erst und nur dann eine Rolle, wenn von ihnen Bedenken artikuliert werden. Um sie gar nicht erst aufkommen zu lassen bzw. frühzeitig auszuschalten, stehen entlastende wissenschaftsethische Expertisen bereit, die bereits im Vorfeld gutachterlich in Auftrag gegeben werden. Von ihnen werden die anvisierten Innovationen stimmig gemacht mit dem, was man die 'herrschende Moral' nennt. Welche Moral herrscht, wird dabei gern nach den Erfordernissen des angestrebten Zieles definiert. Philosophische und theologische Erfüllungshilfe steht dabei zu Diensten, das Gewünschte für den Preis eigener Anerkennung, der Reputation einer in Aussicht gestellten Kommissionsberufung oder fließende Geldmittel zu gewährleisten.

Um die Fortschrittsermöglichung mit der 'herrschenden Moral' in Übereinstimmung zu bringen, bieten die ausgewählten Argumentationslinien diverse Strategien. Derzeit wird insbesondere der Blick über die nationale Grenze des geltenden Rechts als hilfreich angesehen, den eigenen ethischen Standard unter dem Aspekt der Internationalisierung zu relativieren, um ihn - mehr oder weniger gezwungenermaßen - den vorgegebenen Gestaltungsräumen globaler Orientierung anzupassen. Relativierung ist seit jeher das probate Mittel, Unerlaubtes ohne Gesichtsverlust ins anvisierte Ziel der Erlaubbarkeit zu überführen. 

Dabei soll das Abwehr-Argument gegen einen wettbewerbs- und innovationsschädlichen ethischen Konservatismus helfen, Bedenken zu zerstreuen. Ihm wird angelastet, den ethischen Status zum Bremsfaktor wissenschaftlicher Innovationsbestrebungen schlechthin zu erheben. Diese Position lebt aus der stillschweigenden Unterstellung, dass die Bewahrung (lat. = conservare) als Unbeweglichkeit dem Fortschritt prinzipiell ablehnend gegenüber stehe. Sie verkennt jedoch, wie die aktuelle bioethische Debatte beispielsweise zeigt, dass die Position des menschlichen und natürlichen Lebenserhaltes einen zutiefst fortschrittlichen Konservatismus darstellt, weil er menschliches Leben, das als zentrale Basisbedingung jeglicher Zukunftsgestaltung anzusehen ist, vor dem Zugriff fremder Verfügbarkeit schützt, während die moderne utilitaristische Lebensbewertung, die der Euthanasie in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wie heute ihre rechtfertigenden Thesen zuliefert, diesem fundamentalen humanen Zukunftsträger seine existentielle Selbstbestimmung aberkennt. 

Bewahrung oder Veränderung, Erhaltung oder Fortschritt sind also - entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch - keine Wertsetzungen an sich, erst ihre Zielorientierung und ihr konkreter Objektbezug laden sie wertsetzend auf, so dass ein Fortschritt sich unter dem Aspekt langfristiger Folgen als rückschrittlich und ein lebenserhaltender Konservatismus unter demselben Aspekt als fortschrittlich erweisen können. 

Eine andere Argumentationslinie versucht, die ethische Relativierung historisch zu belegen, um zu demonstrieren, dass ethische Positionen nur zeitbedingter Gültigkeit unterliegen und mehr für sich nicht ernsthaft in Anspruch nehmen können. Damit lassen sich aus ihrer Sicht noch wirkende Restriktionen in der Hoffnung auf zukünftige Anpassungen überstehen. 

Der dritte Begründungsweg bezieht sich auf die Manifestation ethischer Relativierung durch bereits vorausgegangene etablierte Entwicklungen, die als Rechtfertigung für eine Fortsetzung dieses Weges in Anspruch genommen werden:  wenn die ethischen Belastungen A, B und C akzeptiert werden, kann D nicht falsch sein, weil es doch keine andere ethische Anspruchsgrundlage habe. Diese Argumentationslinie fußt auf der konservativen Logik, den eingeschlagenen Irrweg in Übereinstimmung mit dem Bestehenden konsequent weiter zu gehen. Sie nimmt das Vorgefundene als weder hinterfragbare noch änderbare Gegebenheit hin, um aus einer unterstellten Stringenz für die Zukunft neue Fehlentwicklungen zu ermöglichen.

Innovation und Ideenentwicklung beziehen sich im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich immer wieder auch auf Optimierungsverfahren, die nicht selten in ihrer forschenden Fokussierung zu einer Blickverengung führen, von der Nebenfolgen insbesondere dann unberücksichtigt bleiben, wenn sie sich im ferneren Umfeld einer Anwendung oder auf außerhalb ihres direkten Zugriffs liegenden Sektoren ergeben. Die Konzentration auf das zentrale Forschungsgeschehen fördert diese verengende Ausrichtung.

Technologische Logik fördert dabei einen vermeintlich wertfreien Fortschrittsprimat, in seiner Folge das Bewusstsein ethischer Nachrangigkeit und sodann im Ergebnis die prinzipielle Neigung zu ethischer Indifferenz. Dies hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass es trotz oder gerade wegen der Kompetenzauslagerung ethischer Wertfragen an Sachverständigenkommissionen beim einzelnen Forscher zu einem Verlust an ethischer Orientierung gekommen ist. Kompensatorisch aufgefüllt wurde er von den technisch wissenschaftlichen Selbststeuerungskräften. Die Denktradition der wissenschaftsethischen Nachrangigkeit in diesem Grundmuster, die sich auf die Zusage der Forschungsfreiheit beruft, verkennt jedoch, dass offen und unvoreingenommen geklärte ethische Implikationen aus der damit gesteigerten Selbstidentifikation der Beteiligten mit ihrer Forschungsaufgabe eher beschleunigende Auswirkungen auf Innovationsprozesse haben.

Angesichts des wachsenden internationalen Innovationsdrucks, unter dem Forschung und Technik stehen, sowie der zwangsweisen Integration des einzelnen Wissenschaftlers in immer mächtiger werdende kollektive Forschungs- und Entwicklungsnetze, in denen individuelle Verantwortungsräume zunehmend aufgehen, kann es nicht verwundern, wenn ethische Bedenken sich immer wieder in die Resignation fügen, keine mitgestaltende Relevanz mehr zu haben, erscheinen sie doch zunächst als Störfaktor, Innovationsbehinderer und Fortschrittsverweigerer in einer Welt, die weitgehend vom ökonomisch-technologischen Imperativ geprägt ist, der allein die Machbarkeit und das vermeintliche Chancenpotential als richtungweisenden Impulsgeber wissenschaftlichen Bemühens vorgibt. Ethische Bedenken, die im Keim erstickt werden, ringen jedoch im Verborgenen um so mehr nach jener Freiheit, mit der die Forschung politisch etikettiert ist. Das nicht Zugelassene, das Unterdrückte wird dann aus dem Ort seiner Verdrängung heraus zum unentdeckt gebliebenen Innovationshemmnis, das verhindert, motivationale Kräfte optimal freizusetzen. 

Die individuelle moralische Intuition gerät in Forschergruppen und Teams in die Versuchung, sich in kollektiven Haltungen gemeinsamer Entantwortung aufzulösen. Daher gilt es um so mehr, wissenschaftsethische Fragestellungen nicht von der Macht des Innovations- und Vergemeinschaftungsdrucks ausschalten zu lassen, sondern im Status der Ideenentwicklung und Forschungsplanung explizit ins Blickfeld einzubeziehen, um ein implizites innovationshemmendes Potential von vornherein gar nicht erst entstehen zu lassen. Die darin dokumentierte Offenheit ist als unerlässliches Motivationspotential hoher Selbstidentifikation anzusehen.

Die Genugtuung wissenschaftlich-technischer Lösungsfindung kann zwar vordergründig das Vakuum einer unterlassenen ethischen Klärung überdecken, nicht jedoch auf Dauer zu jener nachhaltigen inneren Identifikation führen, die höchst motiviertes Engagement verlangt. Es gibt jenseits verordneter oder im Konsens verpflichteter Argumentationslinien einen untrüglichen Instinkt für das Gute im Sinne habitueller Tugendhaftigkeit, die weder eine Überrollung mit einer argumentativen Rechtfertigung noch eine euphemistische Besänftigung verträgt. Wenn ethische Orientierung in Innovationsprozessen auf eine taktische Einflussgröße reduziert wird, belastet sie die Forschungskultur im Ganzen, weil auf sie als Fundament eines allgemeinverbindlichen Vertrauenspotentials kein nachhaltiger Verlass mehr sein kann.

Die Freiheit der Forschung findet mit der ethischen Ausleuchtung ihrer Wege und Ziele - anders als immer wieder behauptet wird - weniger behindernde Grenzziehungen als befreiende Entgrenzung, weil Forschung ohnehin weder richtungs- noch grenzenlos fortschreitet. Auch unter der Freiheitszusicherung des Grundgesetzes ist sie unentwegt zahlreichen richtungweisenden Einflüssen ausgesetzt, die ihr von offenen oder nicht ausgesprochenen Interessen implizit vorgegeben sind. Dazu zählen etwa im wissenschaftlichen Rekrutierungsprozess die prädestinierten Forschungsfelder betreuender Lehrstühle, die für Forschungskarrieren maßgebende Verantwortung haben, finanzielle Zusagen mit der politischen Auflage, ideologisch affine Positionen zu vertreten, dem jeweils herrschenden Zeitgeist zu genügen, sowie Anforderungen aus Industrie oder öffentlichen Budgets, internationaler Wettbewerbsdruck, die Ambitionen persönlicher Reputation oder die - das persönliche Ego streichelnde - Attraktivität medialer Wahrnehmung.

Da von solchen Bestimmungsfaktoren keine Forschung frei ist, bedarf die grundgesetzliche Gewähr der Forschungsfreiheit der gleichzeitigen Rückbesinnung, sich zunächst über diese existierenden Abhängigkeiten Klarheit zu verschaffen, sie ins Bewusstsein zu heben, um die daraus sich ergebenden direkten oder latenten Folgen auf die Forschung wie ihre Ergebnisse berücksichtigen zu können. Freiheit der Forschung bedeutet in diesem Sinne also vielmehr die Befreiung von verborgenen Abhängigkeiten, insbesondere die mentale Befreiung aus den Fesseln des Nicht-bewusst-gemacht-Habens wie auch eine Befreiung von Geld und Macht sowie Mut zu wissenschaftlicher Ehrlichkeit und Offenheit. 

Dass die Forschungsfreiheit, wenngleich im Grundgesetz in Artikel 5, Abs. 3 an vorrangiger Position verankert, in diesem Sinne alles andere als selbstverständlich ist, wird deutlich, wenn man sich den von der oberflächlichen Bühnenschau wissenschaftlicher Selbstdarstellung verfärbten Blick auf diese subtilen Arten der Abhängigkeit bewahrt. Das Gebot der Forschungsfreiheit käme seiner grundgesetzlichen Würde näher, stellte es die Frage nach dem 'frei werden wozu' und nicht nur das Postulat nach dem vordergründigen 'befreit sein von', mit dem die Väter des Grundgesetzes 1949 in ihrer unmittelbar zeitgeschichtlich motivierten Retrospektive eine Wiederholung direktiver politischer Vereinnahmung der Forschung, wie sie im Nationalsozialismus stattgefunden hatte, 'qua lege' unterbinden wollten.